Perspektivwechsel für Eltern

Manch einer der Leser mag sich fragen, warum ich diesen Blogbeitrag schreibe. Im März haben mein Mann Rupert, unser Sohn Felix und ich unsere Tochter Theresa in Tepetitlán besucht, wo Theresa zurzeit ihren Freiwilligendienst im Ausland absolviert. Theresa hat wohl gespürt, dass mich diese Reise nach Mexiko sehr bewegt hat und mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, mal einen Beitrag für ihren Blog zu schreiben. Vielleicht ist es aber auch nur praktisch für sie, wenn sie nicht selber schreiben muss.

Ich kann gleich vorweg schicken: Es war kein üblicher Urlaub, den wir in Mexiko verbracht haben. Es war eine wundervolle Reise zu unserer Tochter, zu ihrer zweiten Familie, in ihr zweites Zuhause. Und das Wichtigste: Ich habe den Eindruck gewonnen, es geht ihr sehr gut in Mexiko und sie ist umgeben von freundlichen, liebevollen und an ihr interessierten Menschen. Deshalb konnte ich sie auch nach unserer gemeinsamen Reise mit einem guten Gefühl für weitere vier Monate in dem doch sehr fernen Land zurücklassen.

Während unserer Reise habe ich viele neue Einsichten gewonnen und mir ist klar geworden, dass sich nicht nur für unsere Freiwilligen in ihrem Auslandsjahr Perspektivwechsel ergeben. Auch meine Sichtweisen haben sich durch diese Reise deutlich verändert. Davon möchte ich erzählen.

Ich habe unsere Tochter entlassen, in der doch auch bangen Hoffnung, dass es ihr in Mexiko gut gehen und dass sie dort eine interssante Zeit haben wird. Typisch Mutter, die meint, ihr Kind noch beschützen und kurz bevor die Tochter ihr Zuhause verlässt, noch ihre Lebenserfahrung weiter geben zu müssen. Eine Mutter, die dann aber vor Ort feststellen muss, dass die ganze Familie von der bemerkenswert guten Sprach- und Landeskenntnis der Tochter profitiert.

Die Organisation von Bus- und Taxifahrten und die Klärung aller touristischen Fragen sind auf einmal kein Problem mehr. Ausflüge in Mexiko Stadt, Verpflegung in Straßenküchen, Mobilität per Uber, als wäre Theresa nicht erst ein- oder zweimal in der risiegen Metropole gewesen! Einen guten Trick haben wir als Familie gelernt, um nicht wie alle anderen Touristen behandelt zu werden: Wir schicken Theresa vor, die mit Freude auf Spanisch erzählt, dass sie keine US-Amerikanerin ist, dass sie aus Deutschland kommt und zurzeit in Mexiko lebt. Und schon entwickeln sich charmante Gespräche mit Verkäufern, Taxifahrern, Kellnerinnen und Kellnern.

Ich konnte feststellen, dass Theresa ein akzeptiertes und geschätztes Mitglied im Pfarrteam von Tepetitlán ist. Sie arbeitet dort im Pfarrbüro, hilft im Kindergarten, gibt Deutschkurse; aber vor allem, sie ist gegenwärtig und geht mit in alle Kirchorte, ins Gefängnis und auf Mission in die entlegensten Dörfer. Vielleicht ist sie so etwas wie eine Botschafterin der deutsch-mexikanischen Freundschaft.

Auch wir waren im Gefängnis – nicht weil wir etwas ausgefressen haben, sondern als ‚deutsche Abordnung‘ haben wir an einer Heiligen Stunde teilgenommen. Dies war eine beeindruckende Erfahrung. Ich hatte Tristesse und Rauhbeinigkeit erwartet, aber auf dem Gefängnishof Marktplatzatmosphäre, Fürsorglichkeit und Emotion erlebt. In der Heiligen Stunde wurde gebetet, es wurden Texte vorgelesen und wir haben deutsche Kirchenlieder vorgetragen, während Padre Teo in einem kleinen Nebenraum einigen Gefängnisinsassen die Beichte abgenommen hat. Theresa war dort schon bekannt und ziemlich mexikanisch: Singen, Vorbeten und Fürbitten formulieren, das hätte es bei uns zu Hause nicht gegeben.

An unserem ersten Tag in Tepetitlan hatten wir das Glück, an einemTreffen der Freundschaftsgruppe Münster/Tula teilnehmen zu dürfen. Es war ein Fest mit vielen netten Menschen, wunderbarem Essen und interkulturellen Arbeitskreisen.

Zu Besuch waren fast alle deutschen Freiwilligen und wir konnten direkt erleben, wie gut sich die Kinder in der neuen Umgebung zurechtfinden und wie selbstbewusst sie agieren. Einige der ‚Freunde‘ konnten wir schon wenige Tage später wieder treffen, nach einem wundervollen Badetag in Tolantongo, wo in einer Grotte ein angenehm warmer, himmelblauer Fluss entspringt, und wo natürliche Infinity Pools mit herrlicher Aussicht zum Entspannen einladen.

Nach diesem Tag wurden wir von Obdulia und Martin in Cardonal zum Abendessen und zur Übernachtung eingeladen. Unsere Sprachbarrieren konnten durch Theresas Übersetzungsbereitschaft und Erzählfreude überwunden werden, so dass wir einen wunderbaren Abend verlebten. Einen Abend aktiv zu gestalten und zu moderieren ist anstrengend und muss auch erst einmal gelernt sein und das haben unsere Freiwilligen jetzt drauf.

Es war ein schöner Zufall, dass wir gerade an Theresas Geburtstag in Tepetitlán waren. So konnten wir lernen, wie man dort so einen Tag gebührend feiert. Geweckt wurde Theresa an diesem Tag mit einer Mañanita, einem Morgengesang, begleitet von Gitarrenklängen – total romantisch. Direkt danach gibt es Glückwünsche, egal ob man gewaschen oder angezogen ist. Ein Kaffee weckt die Lebensgeister, es gibt Geschenke und noch mehr Gesang. Später dann, wenn alle in einem vorzeigbaren Zustand sind, gibt es Frühstück und der Feiertag nimmt seinen Lauf. Theresa zu Ehren gab es ein großes Barbecue mit ihrem neuen Lieblingsessen, Carne Arrachera.

Viele Gäste kommen, die Pfarrfamile, die Freundschaftsgruppe, Bekannte und Freunde aus Tepe, einige unserer Freiwilligen. Es gibt noch mehr Gesang, schöne Torten und wie es wohl mexikanische Tradition ist, wird der Kopf des Geburtstagskindes in eine der Torten gestubst – zur Freude aller Anwesenden.

Ich denke, ein schöner Tag für Resi; die Regie hatten diesmal aber nicht wir.

Aber nicht nur, dass ich jetzt unsere Tochter mit anderen Augen sehe, es haben sich auch noch ganz andere Perspektivwechsel für mich eingestellt. Zum Beispiel die Frage ‚Was tust du für deine Gemeinde?‘ während der Kennlernrunde bei dem Freundschaftsgruppentreffen, hat mir klar gemacht, dass ich mein relativ passives konsumierendes Verhalten als Gemeindemitglied vielleicht überdenken sollte. Die mexikanischen ‚Freunde‘ haben ganz selbstverständlich auf diese Frage reagiert und von unterschiedlichsten Aktivitäten erzählt. Ich habe den Eindruck, mexikanische Gemeindemitgleider sind viel aktiver als die in Deutschland. So sorgt im normalen Sonntagsgottesdienst kein hauptamtlicher Organist für die Musik, sondern die Gemeinde stellt einen Chor- und die Gitarrenmusik; auch Fürbitten werden spontan von Messbesuchern vorgetragen.

Auch mein Blick auf die Bedeutung von Haus und Garten hat sich geändert: nicht ein großes, schönes Haus und ein gepflegter Garten sind wichtig, sondern ein Heim mit einem großen Esstisch direkt in oder an der Küche ist bedeutend, an dem alle Familienmitglieder und Gäste Platz finden und gemeinsam die landestypischen kulinarischen Köstlichkeiten verspeisen und sich dabei viel erzählen können.

Geändert hat sich auch meine Einstellung zum allgegenwärtigen Verkauf von Souvenirs, Kunsthandwerk und Street Food. Als Tourist empfinde ich diese ständige Aufforderung zum Kauf als eher lästig; aber mir ist unterwegs klar geworden, dass der Handel in den strukturarmen Gegenden des großen Landes eine Chance für die Menschen ist, sich den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu verdienen.

Unterwegs musste ich auch lernen, die Polizei ist nicht immer dein Freund und Helfer. Einige Polizisten nutzen ihre Stellung, um zusätzliche Einnahmequellen zu generieren.

Ein Reisetag hat mich besonders beeindruckt: An einem Vormittag vor der Sonntagsmesse haben wir ein kleines Dorf in der Nähe von Tepetitlán besucht, welches bekannt ist für die Herstellung und den Verkauf von irdenem, indigenem Haushaltsgeschirr. Die Fahrt dorthin führte uns durch eine Hügellandschaft, vorbei an reichlich Kakteen und Agaven.

Angekommen, stehen wir auf leeren, staubigen Straßen. Der Himmel ist blau, die Sonne brennt, der Wind fegt durch die Straßen und wirbelt Müll auf, herrenlose Hunde ziehen durch den Ort und wir haben Durst – wenn das nicht die perfekte Western-Filmkulisse ist.

Am Nachmittag wird dieser Eindruck verstärkt: Wir besuchen ein Rodeo, sehen selbstbewusste, filmreife Bullenreiter und jede Menge schick gemachte Cowboys mit wunderschönen Stiefeln und beieindruckenden Hüten. Eine Blaskapelle heizt den Besuchern ein, Steaks, Nachos und Bier werden verkauft und wir warten darauf, dass endlich waghalsige junge Männer den wilden Stieren zeigen, wer das Sagen hat.

Dann ist es soweit! Sobald der erste junge Mann vom Rücken des Stieres geschleudert wird und sich hastig aus dem Rund rettet, habe ich ein schlechtes Gewissen: Ich stehe als Voyeur am Rand und sehe zu, wie ein junger Mann sein Leben risikiert. Aber es war ungemein spannend. Ja, dies ist schon ein eigentümliches Brauchtum, aber ist Schützen- und Oktoberfest so viel besser?

Die Woche in Tepetitlán war eigentlich die lehrreichste, obwohl wir erst im Anschluss eine Bildungsreise unternommen haben. Diese Rundreise war wunderschön, führte uns zu zahlreichen beindruckenden Pyramidenanlagen, wundervollen Städten mit kolonialem oder indigenem Charme, durch beindruckende Landschaften und Naturräume, wir hatten interessante Begegnungen mit der Bevölkerung, konnten viel über ihre Lebensweise lernen, kamen an karibische Strände, die ein Touristenherz höher schlagen lassen, und wo freundliche Bedienungen alle Wünsche erfüllen.

Aber die Woche in Tepe hat mich darauf vorbereitet, das Land auch mit anderen Augen zu sehen, vielleicht aus der Perspektive derjenigen Mexikaner, die wir kennenlernen durften und die ungemein stolz sind auf ihr schönes Land.

Zum Schluss noch eine Erkenntnis: Es ist schon ziemlich toll, dass wir in unserer Heimat so bedenkenlos auch bei Dunkelheit unterwegs sein können, dass unsere Jugend berufliche Perspektiven hat und nicht vom Benzinraub leben muss, dass wir so selbstverständlich Trinkwasser aus unseren Leitungen zapfen können, dass Müll entsorgt wird, ohne dass der Wind ihn wieder in die Umgebung verwirbelt, dass man auch ohne Extrageld zu bezahlen, seine Bürgerrechte wahrnehmen kann.

Aber so viel Gastfreundschaft, Herzlichkeit und Interesse an uns Besuchern habe ich bisher in keinem Land erfahren. Trotzdem bin ich mir sicher, dass es auch in Mexiko nicht selbstverständlich ist, dass Fremde so herzlich in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Theresa hat es in Tepetitlán wunderbar getroffen, sie ist dort angekommen und genießt das Leben. Danke an alle, die das ermöglichen: Padre Teo, Doña Peli (Mutter für ein Jahr), Don Beni, Tía Lore, Juan Carlos, Cesar, Jonathan, ….!

2 Kommentare

    Simone

    Was haben wir als Eltern für ein Glück, dass wir diese neuen tollen Erfahrungen mit unseren Kindern teilen dürfen

    Katharina Althaus

    Herzlichen Dank für diesen so offenen, tollen Bericht!

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